Lucie Vérot, JEUNE QUI VEILLE ET VIEUX QUI DORT, 2020; Übersetzung aus dem Französischen ins Deutsche, JUNGER MENSCH, DER WACHT, UND ALTER MENSCH,DER SCHLÄFT; © Wolfgang Barth; 15.11.2020 Exposé
Anmerkung des Übersetzers:
Der französische Titel Jeune qui veille et vieux qui dort [Junger Mensch, der wacht, und alter Mensch, der schläft] ist der erste Teil eines alten, aber immer noch bekannten ländlichen Sprichwortes, dessen zweiter Teil lautet: sont tous deux près de la mort [sind beide dem Tod nahe].
Im Deutschen gibt es keine direkte Entsprechung für dieses Sprichwort. In der Aussage am nächsten kommt ihm meines Erachtens der Spruch des Martinus von Biberach (1498) [1] :
Ich leb und waiß nit wie lang,
ich stirb und waiß nit wann,
ich far und waiß nit wahin,
mich wundert das ich [so] frölich bin
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Martinus_von_Biberach , 15.11.2020; Urheberschaft umstritten. Vermutete und nachgewiesene Varianten (u.a.) Walter von der Vogelweide, Maximilian I, Hans Thoma, Johannes Mario Simmel, F. K.Wächter. Martin Luther konnte den Spruch nicht leiden.
Lucie Vérot schreibt zu ihrem Stück [Übersetzung W. B.]:
Junger Mensch, der wacht, und alter Mensch, der schläft gehört zu den drei ausgewählten Textes des Comité de lecture Jeunes textes en liberté 2020.
http://www.jeunestextesenliberte.fr
In dieser Eigenschaft soll er 2021 in öffentlichen Lesungen vorgestellt werden und Gegenstand von Theaterworkshops in der Région Parisienne und an anderen Orten sein.
Zusammenfassung :
Französisch-Guayana. Die Jugendlichen Matilda und Yan sind gute Freunde. Eines Abends lädt Yan Matilda ein, zum ersten Mal an einer spiritistischen Sitzung teilzunehmen. Aber die Dinge entwickeln sich anders, als erwartet, und die alte Myrtha, die eine Woche zuvor tot zu Hause aufgefunden wurde, erscheint bei Yan. Sie ist aus der städtischen Leichenhalle geflohen und weiß, dass sie am nächsten Tag in der Armenecke des Friedhofs beerdigt werden soll. Damit ist sie nicht einverstanden. Sie fordert ein ihrer würdiges Begräbnis. Eine andere Person mischt sich ein; alle nennen sie den „Aasgeier“.
Zum Stück :
Französisch-Guayana ist einer der Hauptanlässe meines Schreibens. 2017 hatte ich die Gelegenheit, mit Jugendlichen aus Kourou zu arbeiten, was mich in der Folge zum vorliegenden Text inspirierte. Da ich selbst eine „Metro“ [1] bin, ist wegen der Last der Geschichte und der abgrundtiefen Ungleichheiten die seltsame Besonderheit der Beziehung zwischen Guayaner*innen und Französis*innen ein weiterer Grund für das Stück. Ich glaube aber und kann feststellen, dass Freundschaften möglich sind, und wollte deshalb diese Beziehung zum Motor meines Schreibens machen.
Im Zentrum des Textes steht unser Verhältnis zum Tod. Ich habe den Versuch unternommen, unserem Bedürfnis nach Rituellem einen Platz einzuräumen, eine improvisierte Totenwache dazustellen, die ohne religiösen Kodex dem Wunsch entspricht, sich in fürsorglichem Umgang mit den Lebenden und in Respekt vor den Toten zusammenzufinden, über sich selbst im Gespräch über die Toten und mit ihnen zu berichten.
In diesem Text ist vom Anspruch auf eine würdige und individuelle Bestattung die Rede. Privilegien und soziale Ungleichheiten bestehen über den Tod hinaus fort und haben sogar einen Einfluss auf die Behandlung unsere sterblichen Überreste und den Fußabdruck, den wir in der Welt der Lebenden hinterlassen. In Junger Mensch, der wacht, und alter Mensch, der schläft, wirkt die Solidarität diesen Tatsachen entgegen und die Protagonistin Myrtha kann sich am Ende sogar davon befreien.
Lucie Vérot, Saint-Denis, 15.10.2020
[1] Französin aus dem Mutterland [la „France métropolitaine“].
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