Exposé: Gracia Morales, NN 12

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Übersetzung des Theaterstückes NN 12 von Gracia Morales (2008) aus dem Spanischen ins Deutsche, Bremen, 20.05.2019, © Wolfgang Barth, www.vieuxloup.de und Markus Steinhoff, steinhoffmarkus@web.de

Exposé

Im Mittelpunkt des Stückes NN 12 von Gracia Morales steht die gerichtsmedizinische Untersuchung eines in einem Massengrab gefunden Skelettes mit dem Ziel seiner Identifizierung. Zeit und Ort sind nicht eindeutig festgelegt. Sie können jedem Land im Kriegszustand oder unter den Bedingungen einer Diktatur zugeordnet werden, in dem es „Verschwundene“ gibt. Dass aber erst vor wenigen Jahren in Spanien damit begonnen wurde, Massengräber aus der Franco-Diktatur zu öffnen, in denen noch mehr als 100 000 nichtidentifizierte Opfer ruhen, legt den Bezug zu dieser Epoche der jüngeren europäischen Geschichte nahe.

Auf der Bühne treten vier Personen auf: Die GERICHTSMEDIZINERIN leitet die Untersuchung. NN 12, die nicht identifizierte Tote, die von den anderen Personen nicht wahrgenommen wird, nimmt Stellung, berichtet und interagiert. ESTEBAN, ihr Sohn, erfährt, wer seine Mutter und sein Vater waren und was geschah. Der ÄLTERE MANN, dessen Bedeutung für NNs Schicksal nach und nach klar wird, ist weiterhin der Meinung, dass das Geschehene notwendig war.

Das Stück strukturiert sich ausgehend von der Handlung in der Pathologie durch die Nutzung zweier Spiel-Räume auf der Bühne und deren unterschiedliche Beleuchtung: den Bereich des ÄLTEREN MANNES und den der PATHOLOGIE. Gegenwärtige Handlungsorte werden so gleichzeitig oder abwechselnd sichtbar, und durch die Zunahme und Abnahme des Lichtes und die Vergrößerung der ausgeleuchteten Zonen treten Handlungsabschnitte in denVordergrund. ESTEBAN bewegt sich an beiden Orten. NN 12 kann beide Räume und dabei den des ÄLTEREN MANNES immer mehr einsehen und äußert sich zu allem. Sie tritt dabei am Ende in einen Dialog mit dem ÄLTEREN MANN, der sie jetzt hören kann.

 Über die voranschreitenden Untersuchungsergebnisse, die Ausweitung der Handlungsräume über die Bühne hinaus durch Einblendung aktueller und vergangener Bilder, das Lesen von Briefen, besonders aber durch die Aussagen NNs über die Gespräche der Toten untereinander und die erlebten Vorgänge vor ihrer Erschießung ergibt sich ein vielschichtiges Bild, das Vergangenheit und Gegenwart ineinander aufgehen lässt, das Geschehene vollständig rekonstruiert und die Identität NNs und die Herkunft ESTEBANS Zug um Zug klärt. Wenn das Opfer NN 12 am Ende bei verlöschendem Licht, nun mit ihrem richtigen Namen und dankbar für die Ergebnisse der Ermittlungen, wieder ins Dunkel des Todes versinken kann, bleiben Täter und Sohn übrig. Die GERICHTSMEDIZINERIN aber öffnet eine neue Kiste, um die Identität eines weiteren Skelettes herauszufinden.

Der Aufbau des vielschichtigen Bildes führt zu immer größerer Vertrautheit der Rezipienten mit den Protagonisten. Sie erleben, geführt durch die GERICHTSMEDIZINERIN, Leid und Hoffnung der Patricia Luján Alvares mit  ̶  der sogar der Name genommen wurde und die Marlene (Dietrich) und schließlich NN 12 im Massengrab sein musste – und empfinden tiefe Sympathie und Mitleid. Die Grausamkeit der Vorgänge, die Verlorenheit und Verzweiflung des Sohnes, der nicht erfahren durfte, wer seine Eltern waren, und die unverfrorene Selbstgerechtigkeit eines der Täter werden sichtbar.

Es entsteht ein Urteil, das die Autorin an keiner Stelle selbst ausspricht. Wenn dadurch die Vergangenheit nicht ungeschehen gemacht werden kann, so leistet das Stück doch in der Fiktion sowie die Bemühungen der Aufarbeitung in der Realität einen Beitrag zur Wahrheitsfindung, zum Brechen des Schweigens und zum Ende der Angst.

W. Barth, 21.05.2019

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