Exposé: Tristan Choisel, Dichtercoaching [Coaching littéraire]

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Tristan Choisel, Coaching littéraire, manuscrit 2019; Übersetzung aus dem Französischen ins Deutsche: Dichtercoaching, 24.11.2019, © Wolfgang Barth, Rechte für deutschsprachiges Theater seit Dezember 2019 beim ÖSTERREICHISCHEN BÜHNENVERLAG KAISER, Wien

Authentizität, die Eigenschaft, wahrhaftig, sich selbst, menschlich und solidarisch zu sein, fehlt Paul-Denis. Weil er aber merkt, dass er moralisch in gefährlicher Weise verrottet, möchte er sie, anstatt sich selbst darum zu bemühen, von anderen Menschen, die darüber verfügen, „absaugen“, damit das Risiko, „arm zu sein oder abgelehnt zu werden“ bei den anderen verbleibt: „Notfalls zahle ich [dafür] was“. Auch Victoire, Paul-Denis‘ Frau, denkt pragmatisch. Für den Sohn Guillaume, der entgegen ihrer Erwartung nicht Dichter geworden ist, sondern ebenfalls nur ans Geldverdienen denkt, hat sie eine praktische Lösung: „Er muss weg.“ Paul-Denis‘ Idee, dies zu vermeiden, indem er zwei Schlägertypen anheuert, die Guillaume in einem Intensivverfahren zum Dichten bringen sollen, führt zum Erfolg, aber zu einem anderen als erwartet: Was Guillaume nun formvollendet dichtet, ist inhaltlich abzulehnen, denn es ist nicht „angenehm.“ Schlimmer noch: Er kann mit dem Dichten nicht mehr aufhören und wird zur Gefahr für die elterliche Weltsicht und Lebensweise. Es bleibt nur die ursprünglich ins Auge gefasste Lösung.

Die in diesem Stück vorgeführte Welt ist seltsam kalt und leer. Wenn Victoire sich am Telefon beim Hundezüchter beschwert, der ihr statt des reinrassigen Rauhaardackels einen „Weichhaardackel“ verkauft hat, der in keine Kategorie passt und deshalb keinenWettbewerb gewinnen kann, wenn sie ausführlich und begründet darlegt, dass sie für alle Menschen außer sich selbst nur verachtendes Mitleid empfinden kann und deshalb lieber mit ihren Hunden redet, wenn auch der Nachbar schließlich Paul-Denis‘ Authenzitäts-Auflademethode übernimmt, sich aber niemals öffentlich dazu bekennen würde, dann scheinen Dinge des Lebens verhandelt zu werden. In Wahrheit aber geschieht einfach nichts. Auch das auf den jeweils persönlichen Vorteil ausgerichtete Verhältnis zwischen Paul-Denis und Victoire, die nur die gemeinsame Verachtung für den Sohn eint, der wie sie geworden ist, entbehrt jeden positiven Gefühls oder Wertes. Paul-Denis scheint im diplomatischen Umgang mit Victoire einzig und allein darauf bedacht, keinen Fehler zu begehen. Hier interagieren Schablonen. Am menschlichsten wirken noch die beiden Schläger, die im Umgang mit ihrem Zögling durchaus Empathie an den Tag legen, wenn es dem Auftrag dient.

Die Darstellung dieser Welt ist entgegen aller Erwartung entwaffnend komisch. Das pragmatische Handeln und Denken der Protagonisten nach dem Vorteilsprinzip ist so überraschend und verblüffend direkt, dass man sich immer wieder und bei vielen Details in hohem Maße amüsiert. Dies ist das Merkmal der guten Komödie: Humor und Komik entlarven im Gelächter die Welt, deren Zustand einem das Blut in den Adern gefrieren lässt.

Was hat Guillaume denn nun eigentlich gedichtet? Wir erfahren es nicht, unsere Neugier trifft auch hier auf eine Leerstelle. Wir wissen nur, dass es den allgemeinen Erwartungen der Protagonisten in hohem Maße widerspricht, und dies erscheint angesichts ihrer Beschaffenheit als Trost. Guillaume ist nicht mehr der vom Beginn des Stückes. Er ist jetzt Dichter. Wir wissen, dass er dem Geschmack des Mainstream geopfert werden soll. Wenn er sich im Schlussbild grün und blau geschlagen mit seinen Texten in der Hand schweigend dem Publikum zuwendet, kommt einem unwillkürlich das „Ecce homo“ des Pontius Pilatus in den Sinn.

W. Barth, 05.12.2019

Foto: Österreichischer Bühnenverlag Kaiser
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