Exposé von Gilles Boulan: DER WEG ZUM HAUS

Gilles Boulan, Le Chemin de la maison,ISBN 979-10-92143-01-0 © éditions de l’Aiguille, 2013 ; Übersetzung aus dem Französischen ins Deutsche © Wolfgang Barth, Der Weg zum Haus, März 2017, KARL MAHNKE THEATERVERLAG; EXPOSÉ von Gilles Boulan ("note d'intentions"), übernommen am 11.02.2020 

„Das Haus ist schöner
als der Weg zum Haus.“
Mahmoud Darwish

Mahmoud Darwish 
© Foto und Sendung: Deutschlandfunk Kultur

 Das Haus ist schöner als der Weg zum Haus

 So lautet die Überschrift über ein Gespräch zwischen Mahmoud Darwish und dem syrischen Dichter Nuri Jarrah. Es wurde in Palästina als Metapher veröffentlicht und befasst sich im Wesentlichen mit der ersten Reise Mahmoud Darwishs nach fünfzig Jahren Abwesenheit zu den Orten seiner Kindheit.

In der Unterhaltung überlagern sich die Themen Exil, Erinnerung und Identität. Sie spielen für das palästinensische Bewusstsein eine außergewöhnliche Rolle. Der palästinensische Dichter spricht über sie ohne jede Parteinahme, er wird nicht heftig, zeigt nicht seinen Schmerz. Er berichtet von den großen und kleinen Freuden bei der Rückkehr in seine Heimat (vom Duft des Kardamom-Kaffees, von den Rosen im Garten seiner Mutter…), gibt Trauer um Verlust oder Verbitterung keinen Raum, belässt es nicht bei der Beschreibung seines zerstörten Dorfes. Man gewinnt den Eindruck, dass er diesen außergewöhnlichen Besuch einfach wie einen beglückenden Teilabschnitt seiner Existenz erlebt. Das Gespräch über Palästina endet mit der Schlussfolgerung:  

Ich werde sagen Und in deinem Namen werde ich einschlafen. Denn mein Schlaf muss sich in einen Namen hüllen, in die Wärme, die er auf einem Kopfkissen hinterlässt.

Mahmoud Darwish – Palästina als Metapher

Neben diesem Gespräch liegt eine weitere Begründung für das Stück in seinem Titel: Der zurückhaltende Aphorismus enthält die unglaubliche Erwartungshaltung, die Macht der Erinnerung und die vielfältigen Schwierigkeiten, die mit einer solchen Heimkehr verbunden sind. Diese Aspekte bestimmen heute insgesamt das Denken des palästinensischen Volkes und den Konflikt mit Israel, so wie sie vordem Zehntausende von Juden auf der Flucht vor den Pogromen der Nazibarbarei erfuhren, und auch Odysseus muss ihnen im Verlauf seiner langen Reise begegnet sein. Allgemein haben es alle Emigranten mit dem Weg zum Haus zu tun, welches auch immer die Gründe ihres Exils und seine Dauer sein mögen.

Palästina

Der Plan, das Stück zu schreiben, erwuchs auch aus einer umfangreichen Lektürearbeit und Theaterforschung am Panta Theater in Caen anlässlich des Theater-Workshops Das Land der Olivenbäume: Schreiben über Palästina. Die Ergebnisse dieses Arbeitsexperiments wurden im März 2005 vorgelegt und es entstanden auf Bestellung des Theaterensembles von Philippe Ducros und Mohamed Kacimi zwei Stücke.

Ziel der Arbeit war die Erstellung einer Materialsammlung aus unterschiedlichen Quellen (Roman, Theater, Lyrik, historische Texte, Presseartikel…). Sie sollte einen weniger oberflächlichen Blick auf die Ursprünge des Konflikts, die einzelnen Ereignisse und die Akteure erlauben. Die Theaterproben sollten auf der Basis eines gewissen historischen Wissens und literarischer Kenntnisse erfolgen, die Überlegungen des Theaterteams und der Gegenstand des Seminars selbst dadurch befördert werden.

Aus dieser regelmäßigen und arbeitsintensiven Beschäftigung über fast ein Jahr mit der reichen und vielseitigen palästinensischen, israelischen und frankophonen Literatur ergab sich sowohl der Wunsch, ein Stück zu schreiben, als auch das Wissen um die mit einem solchen Projekt verbundenen Schwierigkeiten und sogar Risiken. Die Grundlagenarbeit hat vielleicht weniger dazu beigetragen, Wissenslücken, Irrtümer und Verständnismängel im Zusammenhangmit dem Konflikt zu beseitigen. Es gelang aber der Anfang einer Annäherung an dieses Thema mit den Mitteln des Theaters. Eine erste Antwort auf die grundlegende Frage, wie man über ein solches Thema schreiben kann. Wie eine Theaterbühne eine derart schwierige, aktuell drängende und komplexe Problematik wie die Palästina-Frage darzustellen vermag. Wie dies geschehen soll, ohne der Parteilichkeit, dem vereinfachenden Konsens oder dem Stammtischniveau zu verfallen.

Es gibt viele Fallen, das ist bekannt. Oft begegnet man Merkmalen parteiischer Gutgläubigkeit, unmittelbar mit Antisemitismus verknüpften, manichäistischen Schwarz-Weiß-Denkens, auf unserem Ausländerstatus beruhender Naivität und des wohlfeilen Exotismus… Andere sind noch schädlicher: Politischer Determinismus, thematische Übertreibung, der Wille, auf Biegen und Brechen einen allgemeinen Sinn zu finden, das Risiko, sich selbst herabzuwürdigen, traurig und arm auszusehen… Befangenheit in politisch „korrektem“ Mitleid in einem realen Kontext, der Mitleid kaum kennt. Den Hintergrund bilden Terrorismus, Versatzstücke aus dem Holocaust, die Siedlungspolitik und religiöse Absichten.

Und wie soll man dieser in einem lokalen Konflikt verwurzelten Historie eine universelle Dimension abgewinnen? Wie den korrekten Abstand zu einer in ihrer Globalität und Komplexität unmöglich zu beschreibenden Wirklichkeit wahren? Und dabei ein dichterisches Werk verfassen und kein historisches Traktat? Wie soll das politische Theater aussehen, das dem entspricht? Es muss der Dichtung und der Geschichte gerecht werden, darf kein Leid, keine Fehler und Lügen übergehen und Schwäche, Illusion und Täuschung nicht zulassen. Auch wenn man entschieden hat, auf der Seite der Verlierer zu stehen.

Ich stehe auf Seiten Trojas, denn Troja ist der Verlierer. Meine Erziehung, meine ganze Lebensweise, meine ganze Erfahrung sind die eines Verlierers und meine Auseinandersetzung mit dem Anderen dreht sich um eine einzige Frage: Wer von uns beiden nimmt heute zu Recht den Opferstatus in Anspruch? Im Scherz sagte ich dem Anderen: Lass uns die Rollen tauschen. Ihr seid die siegreichen, mit Atomsprengköpfen bestückten Opfer. Ich bin ein unterworfenes, mit Sprengköpfen der Poesie bestücktes Opfer. Ich weiß nicht, ob unsere poetische Überlegenheit uns zur Anerkennung als Staat führer wird.

Mahmoud Darwish – Palästina als Metapher

Die Rückkehr

Die Rückkehr ist ein universelles Thema. Es findet im palästinensischen Volk mehr als symbolische Illustration, Intensität und Legitimität, weil fast die Hälfte der Palästinenser außerhalb des Geburtslandes unter oft sehr schlechten Bedingungen lebt. Unter elenden, ungesunden Bedingungen, ohne Rechte. Das Exil bedeutet schon für sich genommen Leid. Hinzu kommt das Unglück, die Wurzeln verloren zu haben, in einer weit verstreuten Familie und in Trennung von den geliebten Menschen zu leben. Dann weitere Beeinträchtigungen, Berufsverbote, der Verlust der Identität (jenes Namens, in den sich der Schlaf hüllen, dessen auf dem Kopfkissen hinterlassene Wärme er spüren möchte).

Vertrieben durch die Massaker und Kämpfe des ersten israelisch-arabischen Krieges flohen sie im Frühjahr 1948 aus ihrem Land. Sie nahmen nur wenig Gepäck mit, ließen die Möbel zurück, die Nippes, Fotos, Teppiche, Erinnerungen… Sie zogen die Vorhänge zu und schlossen die Tür ab. Sie würden mit Sicherheit zurückkommen, die Kämpfe würden nicht lange andauern, die arabischen Brüder schnell den Krieg gewinnen. Und sie hoben gut den Schlüssel auf. Seit mehr als fünfzig Jahren tragen sie ihn tief in der Hosentasche und mit ihm all die unbeschädigten Erinnerungen: Das Haus, die Farbe der Wände, die Lage der Zimmer, die Düfte des Gartens… Ja!  Das Haus ist schön. Und sie träumen davon, es wiederzusehen, nach Hause zu kommen. Mit dem Schlüssel. Ihn im Schloss umzudrehen und eine intakte Welt wiederzufinden.

Die Rückkehr ist der Traum der vielen Tausend Opfer derKatastrophe (Makba), Traum der Flüchtlinge der ersten Stunde und jener der düsteren Tage der Niederlage im Juni 1967. Sie ist vor allem und von jeher das politische Ziel, das die wichtigsten palästinensischen Organisationen zusammenhält. Die Rückkehr (Al Awda) bedeutet die Wiederinbesitznahme des enteigneten Landes (des Eigentums der Abwesenden), das in Ermangelung einer wirklichen Heimat die Rolle der Mutter innehat. Die Rückkehr ist wie die feierliche Erklärung der eigenen Existenz als Volk und als menschliche Gemeinschaft.

Der Weg zum Haus

Die Rückkehr erlangt schließlich (wegen der dahinschreitenden Zeit und der Sprache, die alles und auch das Haus verklärt) eine mythologische Dimension, wird zur täglichen Legende, zur Antwort auf die erlebte Tragödie. Der Weg zum Haus ist sicherlich mit guten Vorsätzen gepflastert, besonders aber von Hindernissen übersät. Aber wo beginnt er wirklich?

Nie weggegangen, nie angekommen. (…) Jedes Mal wenn sie sagten: Jetzt sind wir soweit…, fiel der erste von ihnen durch den Torbogen der Aufbrüche. Du, Held, lass uns in Frieden, damit wir dich zu einem anderen Ziel tragen können. Der Aufbruch möge zu Grunde gehen! Du, blutiger Held der immer neuen Aufbrüche, sag uns, wird denn unsere Reise noch lange Zeit immer nur ein Aufbruch sein?

Mahmoud Darwish – Am letzten Abend auf dieser Erde

Das Haus ist Symbol für das wiederzuerobernde Land, den Staat, den es aufzubauen gilt, und für eine Sprache, die Wurzeln schlagen muss. Die Sprache wird wie das Land von Generation zu Generation weitergegeben.

Der palästinensische Flüchtling teilt, Opfer um Opfer, mit den Trojanern die schmerzhafte Erfahrung der Niederlage, des Massakers und der Zerstörung. Aber noch mehr hat er mit Odysseus gemeinsam. Er hat seine Heimat vor schon zu vielen Jahren verlassen und verkümmert in einem Lager, das provisorisch sein sollte, vor einer Festung, die sich als uneinnehmbar herausstellt. Wie Odysseus ist er vom Gedanken an die Heimkehr besessen. Bereit, auf jede List, jede Strategie, jedwede Gewalt zurückzugreifen, gefährliche künstliche Pferde mit von Sprengstoff gefülltem Bauch zu bauen. Verdammt, durch den Torbogen der Aufbrüche zu fallen, ohne Pass, ohne administrative und soziale Identität könnte er wie Odysseus beschließen, sich Niemand zu nennen. Dann würde ihn der Zyklop nicht sehen, würde glauben, dass es ihn nicht gibt.

Text: Gilles Boulan
Übersetzung Wolfgang Barth, April 2017

Portrait: Gilles Boulan
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