Der/die Morbier. Ein Kriminalfall. Wer ist das Opfer? Die Standuhr „le morbier“ oder der Käse „le morbier“? Auf der Suche nach der Identität des Opfers rollt Kommissar Vieuxloup einen alten Fall neu auf.
(Az., auch mit den umfangreichen und tiefgründigen Ergebnissen der Vorermittler*innen: https://dict.leo.org/forum/viewUnsolvedquery.php?idForum=14&idThread=802972&lang=de&lp=frde#followup=7 )
Am Tatort aufgefunden ein einziger Satz:
„Elle venait de voir le cadavre du morbier éventré allongé sur le sol“
[Da sah sie, hingestreckt auf dem Boden, die Leiche der/ des aufgeschlitzte/n Morbier]
Das kommt mir vor wie ein alter Kriminalfall, der nie aufgelöst und zu den Akten gelegt wurde. Ich möchte ihn neu aufrollen, denn es wurde ein wesentliches Indiz falsch (bzw. ohne dass dies zur Lösung führte) diskutiert. Wir haben von dem ganzen Fall ja nur einen Satz vorliegen. In diesem ist entscheidend „le“ Morbier. Aber nicht in dem Sinne, in dem das Indiz von den Vorgänger*innen diskutiert wurde (nämlich „le“ oder „la“ morbier?), sondern in dem Sinne, dass hier ein bestimmter und nicht ein unbestimmter Artikel steht, egal ob männlich oder weiblich. Es muss sich also um einen bestimmten Käse oder um eine bestimmte Standuhr handeln. „Bestimmt“ z. B.
1.) weil wir im weiteren Kontext, also vor oder nach der Textstelle etwas über den/die Morbier erfahren. Wird der/die Morbier zum Beispiel verbrannt? Riecht er/sie? Spielt er/sie eine Rolle für die weitere Handlung? Hat er/sie im Vorfeld eine Rolle gespielt? Der weitere Kontext wird also zeigen, ob es sich um einen Käse oder eine Standuhr handelt. Das Aufrollen des Falles erfordert in diesem Fall die Neuaufnahme der Recherche des weiteren Umfeldes.
2.) Wenn im weiteren Umfeld aber keinerlei Hinweis erfolgt, wenn wir also nur diesen Satz haben, muss es die Standuhr sein. Denn ein einmal aufgefundener Käse, der keine weitere Rolle spielt, müsste un morbier sein. Es ist ja kein bestimmter. Eine Standuhr in einer Wohnung kann aber sehr wohl le/la morbier sein: Es gibt in der Regel nur eine Standuhr in einer Wohnung, man findet also nicht eine Standuhr, sondern die Standuhr.
Der Fall scheint mir (fast!) gelöst:
Wenn noch ein Kontext vorzufinden ist, muss er untersucht werden. Die Zeugen (hier: der ursprüngliche erste Ermittler oder weitere Personen, die das Umfeld kennen) müssen erneut befragt werden. Wurde das Opfer namens Morbier vorher schon einmal gesehen? Spielte es eine Rolle? Wenn ja, werden wir zweifelsfrei wissen, ob es sich um einen Käse oder eine Standuhr handelt. Die Identität von „le morbier“ wäre geklärt.
Wenn aber kein Kontext und (was ich auf keinen Fall wünsche) kein Zeuge mehr vorhanden sind, müssen wir uns für die Standuhr als Opfer entscheiden, denn für sie gilt, dass sie es im vorgegebenen Satz als „le morbier“ , also als etwas Bestimmtes, auf jeden Fall sein kann. Der Käse könnte es nur dann sein, wenn er vorher schon einmal aufgefallen wäre, sonst wäre das kein bestimmter Käse. Da wir das aber nicht wissen, müssen wir uns mangels weiterer Beweise dafür entscheiden, dass die aufgeschlitze oder ausgeweidete Standuhr als Leiche auf dem Boden lag. Ihre Identität wäre im Indizienprozess, der ja immer auch einen bedauerlichen Restzweifel beinhaltet, geklärt. Manche neu aufgerollte Fälle sind zu alt. Das entscheidende Umfeld ist nicht mehr da.
Interessant übrigens, dass beide mögliche Opfer „morbier“ aus Morbier in der Franche-Comté kommen: „morbier“=“comtoise“; weiblich m.E. wegen „pendule comtoise“ „la pendule de Morbier“ nur im Ausnahmefall männlich / der Käse ist auf jeden Fall männlich („fromage de Morbier“). Dieses zweite Indiz würde eher für den Käse als Opfer sprechen, aber die Vorermittler*innen habe ja vollständig ausgelotet, dass es wegen des jeweils nachgewiesenen „le“ oder „la“ morbier keinen zwingenden Schluss gibt. War das Opfer nun männlich oder weiblich oder divers? Wir wissen es nicht und müssen es nicht wissen.
Bisschen schade. Ich hatte mir nämlich zuerst vorgestellt, wie es ist, wenn man beim Aufräumen auf einen uralten, vergammelten Morbier-Käse („cadavre“) stößt (beurk). Vergammelter Käse, ausgeräumte Standuhr, beides schöne, kaum mehr zu identifizierende Leichen. Der Käse ist allerdings aufregender. Aber wir wissen ja: die Fälle lösen sich nicht immer auf, wie die/der Kommissar*in sich das wünscht.
[Az. 24_09_28 Wolfgang Barth, www.vieuxloup.de ]