TEXT zu LUCIE VÉROT, JUNGER MENSCH, DER WACHT

Zeichnung © Laura Pandelle, Feuilles volantes

„Ich kann diese Welt nicht verlassen, indem ich unter einer anonymen Grabsteinplatte in der Armenecke durchkrieche.“

Von Wolfgang Barth, Übersetzer von Jeune qui veille [JUNGER MENSCH, DER WACHT] und anderen Texten von Lucie Vérot (u.a. Mangrove [Mangroven] und Prouve-le [Alle Beweise derWelt], in Deutschland erschienen im Verlag der Autoren).

Nach einer von Jeunes textes en liberté organisierten Zoom-Lesung des Stückes Jeune qui veille von Lucie Vérot äußerte eine Leserin ihre Überraschung: „Myrtha ist tot, steht aber auf und geht?“ Die Frage ist logisch und berechtigt. Aber die Perspektive des Stücks ist weiter gefasst: Alles menschliche Leben ist von Geburt an dem Tod geweiht, was uns zum grundlegenden Begriff des Absurden führt, wie ihn Albert Camus in seinem Mythos des Sisyphos entwickelt. Wir haben nur dieses Leben und müssen versuchen, es zu einem guten Ende zu führen. Die Herausforderung liegt im letzten Satz des Mythos: „Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen“.

Darum geht es in dem Stück JUNGER MENSCH, DER WACHT. Die Figuren sind auf der Suche nach dem Glück; alle sehen sich mit dem Tod konfrontiert. Das französische Sprichwort, das Stück und Titel zugrunde liegt, ist Programm: „Jeune qui veille et vieux qui dort, sont tous deux près de la mort“ [JungerMensch, der wacht und alter Mensch, der schläft, sind beide dem Tod nahe]. Lucie Vérot aber, getreu der Position Camus‘, spricht nur vom Leben. Von zwei beinahe abgeschlossenen Lebensläufen zweier alter Menschen und der Frage nach der Gestaltung des Lebens zweier junger Menschen, die es noch vor sich haben. Alle parabelhaften Entwürfe vollziehen sich konkret in einem ganz bestimmten Land.

 Lebensläufe und Land sind eng miteinander verbunden. Lucie Vérot stellt als Motto dem Stück Mangroven ein Zitat von Bernard-Marie Koltès voran: „Manchmal kommt man an Orte, die vielleicht nicht die ganze Welt widerspiegeln, aber doch Metaphern des Lebens oder eines seiner Aspekte sind.“ Koltès und Vérot treffen universelle Aussagen. Doch während ersterer das Land in „Combat de nègre et de chiens“ nicht verortet [1], lässt Lucie in „Mangrove“, „Fins de service“ und „Jeune qui veille“ keinen Zweifel aufkommen: Das Land ist Französisch-Guayana. Es ist allgegenwärtig: Wenn es um die grundsätzliche Kluft zwischen „Métro“ und „Nicht-Métro“ geht (siehe unten). In der Geschichte („Menschen wurden angekettet in den Laderäumen von Schiffen hierhergebracht“). Durch die Fremdenlegion, den tropischen Regenwald mit seinem schicksalhaften Fluss Maroni, die Hitzegewitter. Die drei Stücke belegen die Bedeutung von Französisch-Guayana für Lucie Vérot.

Wir nehmen das Land durch seine Bewohner wahr. Die beschriebene Flut ist nicht einfach irgendeine: „Unsere Nächte waren so heiß, dass sie die Regenzeit und Sturzfluten warmen Wassers auslösten.“ Zwei Jahre lang war die Liebe zwischen Myrtha und Armand so gewaltig und allumfassend, dass sie die Naturelemente beherrschte. Am Ende seines Lebens erkennt der Aasgeier (Armand): „Sie ist das einzige, woran zu erinnern es sich lohnt.“

Umgebung und Bezugsfeld Myrthas und Armands ist die „Welt der Illegalen und der Huren“. Ihr Leben war kein Honigschlecken. Es musste etwas zu essen auf den Tisch, und wenn man arm ist, kann man nicht immer den geraden Weg der Legalität gehen („Erst kommt das Fressen, dann die Moral“). War dieses nun „ein beschissenes Leben“, wie Matilda sagt? Nicht jeder kann von sich behaupten, wie Myrtha und Armand eine so unglaubliche Liebe erlebt zu haben. Der Aasgeier fragt zu Recht, ob diese jungen Menschen, mit denen er plötzlich zu tun hat, dies erreichen werden: „Weißt du denn etwa schon, wie dein Leben aussehen wird?“

Matilda und Yan fragen sich das tatsächlich auch. Sie müssen einige Probleme lösen. Matildas Familie ist illegal aus Haiti eingewandert. „Die meisten Leute mögen uns nicht so sehr.“ Die Frage, wer ihr Vater war, belastet sie. Sie fragt sich, ob sie wie Myrtha alleine leben muss, um nicht als irgendjemandes Dienstmädchen zu enden. Yan leidet unter dem Tod seiner Eltern und zermürbt sich in Gedanken über seine heimliche Liebe zu Guillaume. Am Ende werden die Jugendlichen die größten inneren Hindernisse beseitigt haben und in die Zukunft blicken können. 

Das Stück führt aber nicht auf geradem Wege dorthin. Es geschieht und kommt über Umwege und Hindernisse voran in den durch Kommunikation und Aktion entstehenden Beziehungen zu den anderen. Vorurteile müssen abgebaut werden. Schamhafte Zurückhaltung verbietet es auch Myrtha und Armand, ihre Geheimnisse sofort preiszugeben. Jeune qui veille ist ein Stück der Veränderungen, Entwicklungen und Übergänge. Es nähert sich der Wahrheit langsam.

„Jemand ist in den Maroni gefallen“. Ein grundsätzliches Gestaltungsprinzip: Man erfährt ein Ergebnis, ist verblüfft und versteht nichts. Danach erst erhellt das Stück den Sinn. Im faszinierenden Vortrag des Aasgeiers erleben wir seinen Kampf mit dem Goldgräber, der im Maroni landet, dessen Fluten durch die Liebe von Myrtha und Armand angestiegen sind. Ähnlich bei Myrtha, die eigentlich aufgebahrt im Beerdigungsinstitut liegen sollte, aber plötzlich am Tisch von Yan und Matilda sitzt. Auch hier verstehen wir erst im Nachhinein: Ihr Erscheinen ermöglicht es ihr, im allerletzten Moment eine Korrektur des Lebens und ihrer Beziehung zu Armand vorzunehmen.

 Wie Alboury in Combat de nègre et de chiens, der den Leichnam des toten Arbeiters einfordert, damit er der Tradition entsprechend beerdigt werden kann, bittet Myrtha – hier für sich selbst – darum, dass die Respektlosigkeit, die sie während ihres Lebens erlitten hat, durch eine würdige Bestattung ausgeglichen wird. Wenn es in beiden Stücken um Beerdigungen geht, die nicht so sind, wie sie sein sollten, so handelt es sich um Motive, Vehikel, die unseren Blick auf das Leben und seine Beschaffenheit lenken. Am Ende fühlt man sich freier, wie Horn (in Combat), der sich „den Schweiß von der Stirn wischt“. Wir haben ein Stück des Weges zurückgelegt, dessen größte Strecke noch zu gehen ist: das Leben so zu verändern, dass die Beerdigungen des Elends der Vergangenheit angehören. 

Viele Übersetzungen sind eine Herausforderung. Das gilt besonders für die Texte von Lucie Vérot, die in Französisch-Guayana spielen. Die „Präsuppositionen“ – das Wissen und die Erfahrungen als notwendige Voraussetzungen für das „Verstehen“ des Textes in der Ausgangs- und Zielsprache – sind völlig unterschiedlich.

Erläutert sei dies am Beispiel des Begriffes „Métro“. Ein Mensch in Französisch-Guayana wird unmittelbar dessen Bedeutung und die vielfältigen Konnotationen erfassen. Ein Deutscher wird schlicht die Pariser Metro vor sich sehen. Diskussionen in Übersetzerforen führten für den Begriff „France Métropolitaine“ zu „Kontinentalfrankreich“, „Mutterland“, „Europäisches Frankreich“. Dies sind aber nur annähernde und sogar fehlerhafte Ergebnisse: Guayana liegt ebenfalls auf einem Kontinent, aber auf einem anderen. Ist etwa das französische Mutterland die „Mutter“ Französisch-Guayanas? Und Französisch-Guayana, eine französische „Région“, ist doch politisch ein Teil Frankreichs, also doch eigentlich Europas! Und was ist mit den vorgeschlagenen Derivaten „Konti“, „Mutti“ oder „Euro“ für „Métro“? Eine abwegige Vorstellung. Die Diskussion führte auch zu einer unerwarteten semantischen Variante: Ein jugendlicher, in Deutschland lebender Guayaner meinte, „Métros“ beziehe sich auf die Tatsache, dass die Pariser die Metro benutzen, in die man sich hineinquetschen müsse, deshalb verweise dieses Wort in seiner Heimat auf das „Verklemmte“ und „Beengte“ der so bezeichneten Menschen. Fazit der Diskussion: Es gibt kein akzeptables Äquivalent für „Métro“.

Der Begriff wird daher als fremder Eigenname in der deutschen Sprache beibehalten. Die Bedeutung muss sich aus dem unmittelbaren Kontext und durch das gesamte Stück konstituieren. In Junger Mensch gibt es eine solche implizite Erklärung. Ich musste zu „ein alter Weißer“ nur noch „vom französischen Festland“ setzen (auch wenn bei näherer Betrachtung dieser Begriff problematisch bleibt). In Mangroven habe ich zur ersten Orientierung der Regie eine Fußnote gesetzt, den Rest übernimmt das Stück.

Ein schöner Nebeneffekt: Als Ergebnis der Forendiskussion erfolgte im Online-Wörterbuch www.leo.org (Französisch) eine neue deutsche Erklärung zur Annäherung an den Begriff „Métro“: „der Kontinentalfranzose“, „die Kontinentalfranzösin“. Das Beispiel erscheint mir symptomatisch für das Übersetzen: Vorstellungen und Konzepte einer Ausgangssprache mit allen sie bestimmenden Kontexten und Konnotationen sollen in den sprachlichen Kontext einer Zielsprache mit völlig verschiedenen Verstehensvoraussetzungen transportiert werden. Ich hoffe, dass dieses Abenteuer für die Stücke Lucie Vérots in akzeptablem Maße gelungen ist.


[1] Bernard-Marie Koltès, Combat de nègre et de chiens, Paris (Éd. de Minuit) 1989, vierte Umschlagseite

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