Foto © Bernd Gruschwitz, Bremen
Veronika Boutinova, GARY ? CE N'EST PAS UN COWBOY ! ; pièce pour enfants, 2021 ; Übersetzung ins Deutsche: GARY IST KEIN COWBOY, Kindertheaterstück; Wolfgang Barth,13.05.2021
„Eines Morgens hatte ich eine Vision: Ein kleiner Junge trat in eine zur Bücherbox umgebaute Telefonzelle, öffnete ein Buch und flog weg. Aus diesem Bild wollte ich etwas machen, etwas wie einen Kurzfilm mit hellen, frohen Farben, in dem das Lesen ein Notausgang, eine Befreiung, ein Entkom-men sein sollte.“ (Veronika Boutinova)
Gary wächst in einer „bildungsfernen“ Familie auf. Sein Leben in der beengten Hochhauswohnung im sozialen Brennpunkt ist bestimmt vom Lärm und vom Gedränge, der Rücksichtslosigkeit und dem Egoismus der Geschwister und des Vaters, der Verzweiflung und Apathie der völlig überlasteten Mutter, dem von gesellschaftlichen Anstandserwartungen befreiten Pragmatismus der dementen Großmutter. Konflikte werden durch Schreien und Gewalt geregelt. Die Geschwister setzen sich gegen Gary mit Ellenbogen durch, beleidigen und demütigen ihn permanent. Die Schule spielt keine Rolle, dass Gary die Hausarbeiten macht, wird als Makel empfunden. Man geht nicht ans Meer, obwohl es zum Greifen nah ist, und man fährt auch nicht in die Berge. In diesem Umfeld gedeihen die Vorliebe für einfache, direkte Lösungen und der Rassismus. Der Hund Rexbeifuß wird abgerichtet, Menschen nicht weißer Hautfarbe als Feinde zu erkennen.
Der Fernseher läuft ohne Unterbrechung und zeigt Western. Nach dem Vorbild dieser Schwarz-Weiß-Welt hat der Vater die Familie strukturiert. Seine Kinder heißen (Butch) Cassidy, Clinty („Stwoud“), Calamity (Djeïne) und sind ihren historischen Banditen- und Filmvorbildern treu. Aber die Namen Lucky (Luke), das Baby, und besonders Gary (Coupeur), die Hauptperson, deuten eine andere Sichtweise an. Die Gerechtigkeit soll siegen und die Dalton-Brüder (der Vater und drei Geschwister) in ihren gelb-schwarzen Anzügen sollen in den Knast. Vorläufig aber gilt das Familenrecht: „Los, schieß! Und wieder ein Drecksindianer weniger, jawoll […] Und das müsste man auch mit den Arabern, den Schlitzaugen und den Bimbos machen!“
Gary sehnt sich nach der Stille und einem Platz für sich. Er sehnt sich nach Licht, Farben, dem Meer, den Bergen, er möchte wegfliegen. Von den Geschwistern im Regen und dem tristen Grau der Stadt auf dem Trottoir alleine gelassen, entdeckt er die zur Bücherbox umgebaute Telefonzelle, sein HIER, wo er Ruhe findet, entfliehen und denken und mit Hilfe der Stimme Angelas aus dem Telefonhörer, der Bibliothekarin, zur Mediathek finden und den Start in eine bessere Zukunft vorbereiten kann. Diese Welt gibt ihm Kraft, sich schon jetzt seinem Bruder Cassidy, der den Hund auf Asamoah losgelassen hat, zu widersetzen. Gary wird, seinem Namensvorbild entsprechend, für Gerechtigkeit sorgen. Nach seiner Regie wird am Ende Lucky mit rotglühendem Herzen in die Sonne reiten.
Das Stück richtet sich an Kinder ab sechs Jahren und Erwachsene. Während die Kinder die Geschehnisse vielleicht spontan als Spiegel eigener Erfahrungen wahrnehmen und im Lachen über die komischen Seiten und bei der Identifikation mit Gary, der sich wehrt, ein Stück Befreiung erfahren, setzen sich die Eltern mehr mit den düsteren Seiten der beschriebenen Wirklichkeiten auseinander. Das als Countdown zum Start in eine vielleicht bessere Zukunft durch Emanzipation konzipierte Stück, in dem im Kontrast von Hell und Dunkel, Farbe und Schwarz-Weiß, in vielen Wortspielen, fantasievollen sprachlichen Verschiebungen, Neologismen und poetischer Klanggestaltung Wirklichkeit abgebildet und der Ansatz von Veränderung sichtbar wird, soll Spaß und Freude bereiten und auch alberne Ausgelassenheit erlauben.
Lesungen im vom R. N.[1] regierten Calais, dem Wohnort der Autorin, deren Stücke von ihren Erfahrungen besonders mit den Auseinandersetzungen um die Flüchtlingskrise im „Jungle“ und danach geprägt sind, haben diese Möglichkeit bestätigt.
Wolfgang Barth, 15.06.2021
[1] Rassemblement National, früher FN (Front National)
Übersetzungen (Auswahl)