Nach Pristina, Sofia, Istanbul und Lissabon stellt sich erneut die Frage umso drängender, als schon viermal der Versuch unternommen wurde, sie zu beantworten: Wie soll man angenehm, aber auch zumindest ein bisschen objektiv beschreiben, was wir während dieser drei Tage der Begegnungen und intensiven Arbeit in der schönen Hauptstadt Ungarns erlebten? Alle, die dabei waren, haben doch ihre eigene Sicht der Dinge und eine persönliche Meinung darüber, welche Details zu berichten es sich lohnt. So werde ich wie die Jahre zuvor der heiklen Frage ausweichen, denn es geht ja nicht darum, einen offiziellen Bericht in irgendjemandes Auftrag zu verfassen, sondern einfach zu erzählen; so wie man auf einer Postkarte knappe Erinnerungen als Einladung festhält, mit uns von unserer Reise zu träumen.
Donnerstag, 25. Oktober
In Budapest fährt eine alte, rostgelbe Straßenbahn entlang der Uferböschung des Flusses, und unter dem Herbsthimmel, der nicht weiß, was er will, ist die Donau nicht sehr blau. Die Uferbäume legen ihr Kleid ab und die Spaziergänger haben das Gegenteil getan und sich ohne großes Bedauern von der leichten Sommerbekleidung getrennt. Ein Dunstschleier schwebt um die eindrucksvollen Straßenlaternen entlang der Elisabethbrücke.
In diesem zentral gelegenen Viertel von Pest liegt in der Iranyistraße 23 die Wohnung, in der die Gastgeber Dominique und uns untergebracht haben. Ein altes Stadthaus, das gerade saniert wird, mit Innenhof. Man erreicht die Wohnungen über eine in jeder Etage rundum laufende Galerie. Dorthin kommt man nach nicht enden wollender Fahrt mit einem Gitterkastenaufzug, der uns wie durch Wunder in den vierten Stock bringt. Wenn man dann aber die Schwelle der Wohnung überschritten hat, findet man sich ohne weitere Überraschungen im Ikea-Komfort wieder.
Die ersten, recht widersprüchlichen Eindrücke entsprechen der Poesie einer Zeitreise durch den Charme einer vergangenen Epoche, in der sich die Zeugnisse verfallenen historischen Glanzes der Donaumonarchie mit verirrten eigenen Filmerinnerungen vermischen. Aber das nostalgische Flair verweht schnell. In den Einkaufsstraßen tritt unaufhaltsam die Moderne mit den unvermeidlichen großen Markenreklamen der Boutiquen für Wohlbetuchte in den Vordergrund wie in anderen Städten auch. Die Globalisierung hat Budapest natürlich nicht vergessen. Warum sollte sie?
Es ist recht frisch an diesem Morgen, aber wir gehen weiter bis zur Széchenyi-Brücke und dann über die Joszsef Attila-Allee bis zur St.-Stephans-Basilika. Zahlreiche Spaziergänger nehmen denselben Weg und wir treffen auf viele Franzosen, die mit der Familie die Allerheiligenferien für einen Kurzaufenthalt nutzen. Wie zur Versicherung, dass sie sich nicht im Datum geirrt haben, verweisen in den Schaufenstern orange leuchtende Horrorexponate auf das bevorstehende Halloween, und auf dem Platz vor der Basilika mit seinen Touristen und Fahrrädern kündigt ein leichter Nieselregen den nahenden Winter an.
Auf dem anderen Flussufer (also in Buda), in der Nähe der Straßenbahnhaltestelle Kalman Selz befindet sich unser Tagungsort Jurányi Hás, über den so mancher französische Künstler ins Schwärmen geraten könnte. Der schöne Gebäudekomplex ist Produktionsort und Aufführungsstätte zugleich und beherbergt gut ein Dutzend Theater- und Tanzgruppen, einen Ausstellungsraum, ein Bistrot mit Klavier, Seminarräume und einen Kindergarten. Nach kurzer Metrofahrt sind wir dort angekommen und gehen zunächst in die Cafeteria. An bunt zusammengewürfelten Tischen und auf ebensolchen Lehnsesseln und Sitzbänken entwerfen leuchtende Apfelsymbole der Macintosh-Rechner, Smartphone-Displays und sehr konzentrierte junge Leute Projekte oder diskutieren über Ideen zu neuen Stücken. Keine lauten Stimmen, kein störender Lärm, hier ist Diskretion angesagt. Die großen Diskussionen werden über WLAN geführt. Eine paar Hunde ohne Leine wuseln zwischen den Gästen, laufen in die Küche, tollen miteinander herum und es ist ihnen egal, dass die Menschen sich nicht um sie kümmern.
Kurz darauf erscheint Anna, die Gastgeberin und Organisatorin unserer Hauptversammlung, natürlich noch sehr unter Druck wegen der letzten Vorbereitungen. Dann setzt sich Françoise, Übersetzerin Ungarisch, an unseren Tisch und wir plaudern ein bisschen über ihre Heimatstadt Saint Brieuc. Nach und nach treffen die anderen bekannten und noch unbekannten Teilnehmerinnen ein. Doch gleich ist es so weit, und nach den natürlich unvermeidbaren Begrüßungsumarmungen folgen wir Anna und ihren Assistentinnen, die uns das Gebäude vorstellen. Dutzende von Veranstaltungsplakaten an den Wänden der monumentalen Treppe säumen unseren Weg in die dritte Etage. Anna erklärt einige sehr detailliert und gibt so eine schnelle Einführung in das aktuelle junge ungarische Theater.
Die Fenster des großen und hellen Versammlungssaales öffnen sich zur einen Seite hin auf eine baumbewachsene Straße und zur anderen auf die Baustelle eines Häuserblocks. Die Raumdecke ist hoch wie das Gebäude überhaupt, und seltsamerweise ist an einer Schmalseite ein Basketballkorb angebracht. Wozu? Die belanglose Frage scheint niemanden zu interessieren. Die in U-Form zusammengestellten Tische öffnen sich auf eine weiße Wand hin, sie dient als Projektionsfläche für die PowerPoint-Präsentationen. Hier und dort auf den Tischen ortsübliche Süßigkeiten, falls der Heißhunger jemanden überfällt oder man verständlicherweise einfach auf die Häppchen neugierig ist.
Eine Vorstellungsrunde ermöglicht die Zuordnung von Namen und zahlreichen neuen Gesichtern der Koordinatorinnen oder einfachen Mitglieder der verschiedenen Komitees: Armine vom armenischen Komitee, Iryna vom weißrussischen, Salla vom finnischen, Mirza vom kurdischen, Andreas vom polnischen, Selin vom türkischen, Katharina vom deutschen und Françoise vom ungarischen Komitee. Zu den schon bekannten Gesichtern gehören natürlich Anna, Ulrike, Wolfgang und Nicole vom deutschsprachigen und französischsprachigen Komitee, Dominique als Hauptkoordinator, Tiana und Iva vom DCMS-Komitee, Lilach vom hebräischen und Gilles vom französischsprachigen Komitee. Wegen ihrer Flugzeiten werden Laetitia vom italienischen Komitee, Kim vom slowenischen und Sarah vom englischen ein wenig später eintreffen. Es ist schade, dass einige Freundinnen und Freunde aus beruflichen Gründen nicht hier sein können: Andréas, Hakhan, Jeton, Maria und Carolina, Henning, Frédéric, Gergana… bestimmt habe ich jemanden vergessen. Dennoch waren, seit es die Jahreshauptversammlungen gibt, noch nie so viele Komitees und Mitglieder vertreten wie in diesem Jahr, worüber wir uns natürlich freuen.
Logisch ergibt sich, dass an diesem ersten Arbeitsnachmittag von den vertretenen Komitees oder Dominique eine Bestandsaufnahme über die Aktivitäten erfolgt. Die Koordinatorinnen berichten konkret vom Zustand ihrer Komitees (Zahl der aktiven Mitglieder, Qualität der Arbeit, Zahl der eingereichten Texte im Turnus, Anzahl der Übersetzungen…) und von allen Aspekten der Komiteearbeit: Wie findet die Textsammlung statt, nach welchem Modus werden die Stücke ausgetauscht, wie kommt die Auswahl zustande und wie werden die ausgewählten Stücke der Öffentlichkeit vorgestellt? Das dauert ziemlich lange, denn mehrere Komitees stehen noch am Anfang ihrer Arbeit und verfügen noch nicht über die Routine der schon gefestigten.
Etwas verspätet drängen sich die Teilnehmerinnen in die Straßenbahn Nr. 4, steigen am Ende der Margaretenbrücke um in die Linie 2 mit ihrer interessanten Streckenführung um das gewaltig zur Geltung kommende angestrahlte Parlament herum und gehen dann zu Fuß weiter bis zur Basilika und zum Restaurant Academia Italiana, wo das Begrüßungsdiner auf uns wartet.
Als wir eintreten, gibt es für mich eine schöne Überraschung: Endlich treffe ich Stanislas und Bela, die ich bisher nur vom Mailverkehr her kannte, und auch Zohar ist da. Leider müssen wir das sehr herzliche Begrüßungsszenario unterbrechen und ins Kellergewölbe hinabsteigen, wo ein eindrucksvoller Tisch für ca. 30 Gäste gedeckt wurde. Antipasti, Steinpilzrisotto, Gnocchis, Pasta Bolognese, italienische Weine und Limoncello-Eis, ernste und überhaupt nicht ernste Gespräche, neue Bekanntschaften und Wiedersehen.
Es ist noch nicht spät, die Nacht eher mild und die Versuchung groß, den ungefähr 20minütigen Rückweg zu Fuß zu gehen. Auf einem Platz in der Nähe flirtet ein angehaltenes Riesenrad mit dem Vollmond, der über der evangelischen Kirche aus den Wolken steigt, und in den Einkaufsstraßen im Zentrum bringen Stadtangestellte auf Hebebühnen die ersten Weihnachtsbeleuchtungen an.
Freitag, 26. Oktober
Es erwartet uns ein wirklich sehr umfangreiches Tagesprogramm. Um ein wenig von der Stadt zu sehen und mich ein bisschen zu bewegen, verzichte ich auf öffentliche Verkehrsmittel und gehe zu Fuß zum Jurányi Hás. Ein angenehmer Dreiviertelstunden-Spaziergang auf dem Donau-Ostufer bis zur Széchenyi-Brücke und weiter auf dem Westufer bis Csalogány. So kann ich das Parlament vom gegenüberliegenden Ufer aus fotografieren, einige schöne Kirchen entlang des Flusses auf der Buda-Seite entdecken und über die wunderbare Brücke gehen, deren Zugang auf beiden Seiten von abschreckend brüllenden, steinernen Löwen bewacht wird.
Seit mehreren Monaten schon arbeitet ein Sonderkomitee mit wenigen Mitgliedern namens Board an einem neuen Projekt. Eurodram soll eine Nichtregierungsorganisation, eine NGO, werden, damit wir zuverlässiger umfangreichere Zuschüsse in den jeweiligen Ländern beantragen können. Zunächst erklären Dominique und Ulrike, warum eine solche Organisationsform günstig wäre und sie in Luxemburg angesiedelt werden soll. Dann entflammt eine lange und für meine unterqualifizierten und mittelmäßig anglophonen Neuronen recht komplexe Diskussion. Es herrscht Uneinigkeit über das Statut, und die für den Vormittag vorgesehene Abstimmung wird einfach vertagt. Sie soll über das Internet auf der Grundlage einer neuen Roadmap, die gründlicher die Dissens-Details herausstellt, nachgeholt werden. Eine Arbeitsgruppe soll möglichst schnell die Vorlage erstellen.
Es ist eine sehr engagierte und teilweise sogar angespannte Diskussion, die sich über die eingeplante Zeit hinaus hinzieht. Es kommt aber nicht in Frage, den Beginn der Nachmittagsversammlung zu verschieben. Hierzu sind Claudia und Valentina eingeladen, um uns Fabulamundi zu erklären, und schon das Wort klingt so verführerisch, dass man wirklich Lust hat, mehr darüber zu erfahren.
Nach einem Blitzessen mit Zohar im Innenhof des Jurányi befinden wir uns wieder im Saal mit dem Basketballkorb. Wir bekommen einen Kaffee und Claudia beginnt mit ihrem brillanten, gut mit Materialien aus ihrer Internetseite illustrierten Vortrag. Kurz zusammengefasst kann man sagen, dass Fabulamundi dieselben Ziele wie Eurodram verfolgt, aber eher Reisen von Autoren unterstützt als die Zirkulation von Texten. Das Netzwerk umfasst zehn Länder und fördert in jedem Turnus 80 Autoren, 8 pro Land. Die Initiative in Kooperation mit Théâtre ouvert und La Mousson, was Frankreich betrifft, ist faszinierend und es liegt auf der Hand, dass viele Gründe für eine Zusammenarbeit mit Eurodram sprechen. Es müssen nur noch Form und Modalitäten gefunden werden. Die Anwesenheit von Claudia und Valentina bei unserer Hauptversammlung kann schon als erstes Beispiel und ermutigendes Zeichen gelten.
Es stehen aber noch weitere wichtige Fragen für diesen Freitagnachmittag auf der Tagesordnung. An erster Stelle, wo die nächsten Hauptversammlungen stattfinden sollen. Mehrere Projekte werden vorgeschlagen, das von Ulrike in Hamburg, von Lilach in Tel Aviv und von Kim in Ljubljana. Auch Montpellier wäre nach Dominiques Meinung möglich, und Claudia bringt einige italienische Vorschläge ins Spiel. Der letzte Diskussionspunkt betrifft die Finanzierung der Arbeit von Eurodram und die Fördermöglichkeiten.
Aber es ist schon Zeit, Anna ins Katona József Theater zu folgen, wo die erste Aufführung des Abends stattfindet: „Pali“, ein von Panodrama vorgestellter Dialog mit anschließender kurzer Diskussion an Ort und Stelle. Im zweiten Teil des Abends wird die Gruppe zum Theater Átrium in der Nähe des Jurányi Hás gehen, um die Aufführung eines Stückes von Béla Pintér zu sehen. Was mich betrifft, muss ich gestehen, dass ich mich, erschöpft durch die langen und intensiven Diskussionen auf Englisch, nicht mehr kräftig genug fühlte, einer Aufführung auf Ungarisch zu folgen.
Samstag, 27. Oktober
Die Arbeit beginnt erst um 10:30 Uhr. Das gibt mir reichlich Zeit, einen längeren Fußweg zum Jurányi Hás auszusuchen und andere Orte und Sehenswürdigkeiten der Stadt zu entdecken. Im größten Teil führt er am östlichen Flussufer entlang vorbei am majestätischen Parlamentspalast und der bewegenden Schuhe-Gedenkstätte am Donauufer, die an die jüdischen Ofern der Shoa erinnert, die die Schuhe ausziehen mussten, bevor sie umgebracht und in die Donau geworfen wurden. Der Bildhauer hat sechzig Paar Schuhe aus Bronze an der Uferkante aufgereiht. Betroffene Besucher haben einige Geschenke hinterlassen: Kerzen, Blumensträuße, eine israelische Fahne. Dann geht es über die Margaretenbrücke am äußersten Ende der gleichnamigen Insel und die Allee hoch bis Kalman Selz.
Bei der Vormittagsversammlung wird über die Kommunikation innerhalb von Eurodram und die Außendarstellung gesprochen und über einige weitere Punkte außerhalb der Tagesordnung. Für einige Koordinatorinnen hat sich der Vorabend noch in die Länge gezogen, und so ist die Versammlung nicht vollzählig, die Diskussion aber dennoch konstruktiv und recht lebendig.
Das Mittagessen findet im Hause statt. Die Nachmittagssitzung zur Vorstellung der ausgewählten Stücke durch die Komitees ist öffentlich. Eine solche Veranstaltung könnte für das Publikum leicht langweilig werden, und so ist die zugeteilte Zeit für alle Vortragenden sehr knapp bemessen und PowerPoint erwünscht. Zwölf Blöcke ausgewählter Stücke (also insgesamt ca. 30) werden in zügiger Folge, die offensichtlich niemanden ermüdet, vorgestellt. Dies ist zweifellos ein Fortschritt gegenüber den ersten Auswahlvorstellungen in Pristina oder Sofia, auch das Zeitraster wird eingehalten.
Im Anschluss an die Sitzung leitet Kim für alle Anwesenden ein Speed-Dating an. Diese entspannende Unterhaltung ist hoch willkommen, denn so können wir spielerisch unsere Arbeit abschließen und dort Kontakte knüpfen, wo dies vielleicht noch nicht geschehen ist. Um Nützliches und Angenehmes miteinander zu berbinden wurde in der Cafeteria ein Abendessen bestellt und der Ausstellungsraum für die Eurodram-Gäste reserviert. Bier, Gulasch, Feststimmung.
Aber es ist noch nicht der Moment, sich ganz zurückfallen zu lassen, denn eine weitere Vorführung steht auf dem Plan. Dieses Mal findet sie im Jurányi Hás selbst statt. Es gibt dort ein Theater mit ungefähr dreihundert Plätzen und eine junge ungarische Theatertruppe spielt Sunflower, ein Stück von Andrea Pass über die Probleme Heranwachsender. Man kann den Plot in Übertiteln auf Englisch verfolgen und die Schauspielerinnen und Schauspieler legen sich sympathisch und engagiert ins Zeug. Der Abend endet, wo er begonnen hat, mit Getränken und bei Gesprächen unter Freunden.
Gilles Boulan, Caen, 05.11.2018
Übersetzung Wolfgang Barth, Bremen, 08.11.2018