©Foto: Adi Kuneva, Sofia. Leman Yildaz, Direktorin des 26. Istanbuler Theaterfestivals, spricht zu den gemeinsam versammelten EURODRAM- und FENCE-Mitgliedern.
Bericht von Gilles Boulan, Koordinator des französischsprachigen Komitees
Montag, 23. Mai, 11 Uhr. Nach zwei kühleren Tagen mit düsterem Himmel und geschlossenen Läden am Sonntag erwacht die Stadt Istanbul zu neuem Leben. Die Sonne zeigt sich wieder und der dichte Verkehr lässt schon den Gedanken an das Überqueren des Boulevards gefährlich erscheinen. Das Treiben auf der Straße und das Betrachten der Moschee von Sisli füllen die letzten Minuten meines Aufenthaltes in Istanbul aus. Den Zimmerschlüssel habe ich im Hotel Bade abgegeben. Ich sitze auf einer Caféterrasse in der Nähe, und während mein Tee kalt wird, bringe ich diese letzten Notizen zu Papier. Gleich werde ich Dominique und Clara treffen und wir fahren gemeinsam zum Flughafen.
Die zusammenfassende Chronik, die mit diesen Zeilen beginnt, ist ein vom Zufall geleitetes Tagebuch, in dem ich Eindrücke, etwas wirre Reflexionen und vereinzelte, mehr oder weniger gesicherte Erkenntnisse während meines Aufenthaltes gesammelt habe, wie es sich gerade ergab. Ich will sie auch gar nicht weiter überarbeiten und daraus einen wahrheitsgetreuen, chronologischen und objektiven Bericht erstellen. Sie sollen vielmehr zu einer Sammlung von mehr oder weniger bedeutenden Momentaufnahmen zusammenfließen, denn diese unstatthafte Nachlässigkeit passt sehr gut zu meiner Stimmung an diesem Morgen, an dem die Koffer gepackt und die Erinnerungen noch nicht sortiert sind. Wir stehen also kurz vor der Abreise. Gibt es einen günstigeren Übergang, um von unserer Ankunft zu erzählen?
Die Ankunftshalle des Flughafens Atatürk war für mich immer mit einer persönlichen Erinnerung verbunden: Eine dichte und lärmende Menschenmenge war zum Flughafen gekommen um ausgewanderte Verwandte zu begrüßen, die Weihnachten zu Hause verbringen wollten. Nichts von all dem heute. Der Ort wirkt angenehm, übersichtlich und weiträumig. Man bewegt sich mühelos, und zahlreich vorhandene Geldautomaten stehen den Reisenden zum Geldeintausch zur Verfügung. Erste Bilder einer modernen Stadt, deren Beschreibung sich von Anfang an im Dilemma befindet zwischen orientalisch geprägten Binsenweisheiten aus einer vergangenen Zeit und unvermeidbaren, von den neuesten Nachrichten genährten Fantastereien. Wie könnte man behaupten, während eines so kurzen Aufenthalts auch nur irgendeine Wahrheit zu erfassen? Es ist niemals leicht das Gesicht eines Landes zu enthüllen. Es ist weder Puderzucker auf Lokums noch schwarzbetuchtes Kalifat, hier mit dem wenig glaubwürdigen Anstrich von Demokratie. Man kann es kaum erahnen. Wie eine orientalische Tänzerin, die den Schleier nicht ablegt. Und Istanbul ist Istanbul, nicht die Türkei.
Auf dem Weg in die Stadt fährt man mit der U-Bahn zwischen riesigen Baustellen oder gerade fertiggestellten Neubauten durch die neuen Siedlungen, die sich seit einigen Jahren in das Ackerland zwischen Flughafen und Stadtzentrum fressen. An den Fenstern der Wohnblocks oder an den Baustellenfassaden entlang hängt in großer Zahl die Fahne der Türkei. Auch die Linienbusse und Dächer sind in gleicher Weise in Szene gesetzt. So muss sich schon jetzt die Frage stellen, die im weiteren Verlauf eine Antwort erfahren wird. Heute ist der 19. Mai, der Nationalfeiertag. Das wäre die logische Erklärung. Aber die Fahnen verschwinden nicht am nächsten Tag. Der Nationalismus der Regierung hat sich ihrer bemächtigt, sehr zum Verdruss jener, die in ihnen das Symbol der modernen Türkei nach dem Willen Mustafa Kemals sehen.
In diesem Augenblick… Die U-Bahn, die in den Tunnel unter den Hügeln eingetaucht war, stößt wieder ins Freie und fährt zur Überquerung des Goldenen Horns mit Schwung auf eine schmale Eisenbahnbrücke neben der Galatabrücke. Ja, in diesem Augenblick erscheint uns die mythische Stadt mit dem ganzen Zauber ihrer berühmten alten Moscheen, dem Galataturm und den Schiffen auf dem Bosporus. Und bevor wir wieder in die Tiefen der Erde eintauchen, beim kurzen Halt an der U-Bahn-Staion Haliç… ja, da haben wir wirklich das Gefühl in Istanbul angekommen zu sein.
In der Lobby des Hotels Bade mit ihrer durchaus etwas düsteren und imposanten Ausstattung sammelt sich eine kleine Gruppe von ungefähr zwanzig Personen um auszugehen. Die riesige Drehtür in Bewegung setzen und im Café nebenan schnell eine Kleinigkeit essen, bevor wir ins Theater gehen. Wir sind ein wenig benommen von der Reise und brauchen einen Augenblick um unsere Freunde wiederzuerkennen. Welches Glück, uns wiederzusehen, uns nach einem Jahr Trennung und unzähligen Mails hin und her wieder zu treffen. Hakan, unseren Gastgeber, immer mit einem Lächeln trotz der großen Aufgabe, die unsere Ankunft für ihn bedeutet, Zohar, den man mit seinem Pilotenschnurrbart kaum wiedererkennt, Andreas, den Athener, unverändert jovial, Ulrike, ins Gespräch mit Jonathan vertieft, Neda mit leuchtend ukrainisch blondem Haar, Jeton, bei aller kosovarischen Gelassenheit stets zu einem kleinen Spaß aufgelegt… Ich habe nicht alle benannt. Natürlich nicht. Es gibt auch einige neue Gesichter, die uns in den kommenden Stunden immer vertrauter werden. Und viele Mitglieder von Fence, denen wir so nach und nach begegnen.
Die Büyükdere ist die Verlängerung der Halaskargazi cadessi, einer der wichtigsten kommerziellen Verkehrsadern der Stadt. Wir brauchen zu Fuß ungefähr zehn Minuten bis zum Hotel Marmara Sisli. Dort sind zwei Tagungsräume für die Treffen der beiden Gruppen reserviert. Bei diesem kleinen Morgenspaziergang entdecken wir unter anderem einen hinter hohen Mauern und verbarrikadiertem Eingangstor versteckten griechischen Friedhof, ein französisches psychiatrisches Institut und das Kulturzentrum von Sisli Mediciyeköi. Trotz der Sonne an diesem Vormittag und der türkischen Beschriftungen sieht die Stadt mit ihren Hochhausglasfronten, ihren Modeläden, ihrem Verkehr, ihren Caféterrassen aus wie irgendeine andere moderne Großstadt. Die Frauen gehen, wie unsere Großväter gesagt hätten, „mit wehenden Haaren“ spazieren und Kopftücher sieht man in diesem Teil der Stadt eher selten. Die Minarette verstecken sich hinter den Fassaden der Hochhäuser, erdrückt von deren Höhe, und die vielen Taxis sind genauso gelb wie in New York. Aber in einer kleinen Nebenstraße ist ein Knoblauchhändler mit seinem Pferdewagen unterwegs und Laufboten befördern großräumige Lasten auf kleinen Schiebewagen.
Im Untergeschoss des Hotels Marmara stehen eine Kaffeemaschine und einige Häppchen für die beiden Gruppen bereit, bevor sich diese trennen. Eurodram hat den Tagungsraum mit dem Namen „Bluetooth“ zugeteilt bekommen und beginnt mit einer Bestandsaufnahme zum Zustand der Komitees (Mitglieder, Schwierigkeiten, Perspektiven und andere Angelegenheiten…). Etwas mehr als zwanzig Mitglieder sitzen um die in U-Form angeordneten Tische und es sind dreizehn Komitees vertreten, so viele wie nie zuvor. Deutlich am zahlreichsten sind die Vertreter des deutschsprachigen Komitees mit der Koordinatorin Ulrike und Wolfgang, Henning, Nicole … Beinahe genauso groß ist die bulgarische Delegation um Gergana. Zohar ist mit Lilach gekommen und repräsentiert das hebräische Komitee. Carolina begleitet Maria vom portugiesischen Komitee, und in Abwesenheit von Stéphane, dem Koordinator, sind Frédéric und Pino vom italienischen Komitee da. Es gibt auch zwei neue Komitees, das ungarische, vertreten und sogar mit Powerpoint vorgestellt durch Anna, und das arabische mit Amine aus Syrien, der heute in Paris lebt. Und um diese umfangreichen Tafelrunde der Theaterübersetzung herum haben sich natürlich die altvertrauten Teilnehmer dieser Treffen eingefunden: Hakan (türkisches Komitee), Andreas (griechisches Komitee), Jeton (albanisches Komitee) und Dominique und Clara als Gesamtkoordinatoren und für das Maison d‘Europe et d’Orient.
Zwischen zwei Arbeitssitzungen bleibt wenig Zeit für das Essen. Die Autoren, Übersetzer und Koordinatoren sind ja zahlreich und teilen sich deshalb anarchisch auf mehrere Restaurants in der Nähe des Hotel Marmara auf. Überdachte Terrasse, viel Sonnenschein und Zusammenstellung des Mittagessens hinter einer Küchen-Klarsichtscheibe auf Wunsch. Ich entscheide mich für ein Spinat-Käse-Gratin mit Leberpfanne aus Armenien an Joghurtsoße. Köstlich. Das Fremde richtet sich oft auf unseren Tellern ein.
Die von den dreizehn Komitees ausgewählten Texte werden am Nachmittag vorgestellt. Was mich betrifft in einer hochriskanten Sprachübung auf Englisch mit Simultanübersetzung durch Hakan. Die Sitzung ist ja öffentlich, und so sind einige interessierte örtliche Theatervertreter gekommen und hören zu. Trotz der Begrenzung auf zwölf Minuten für jeden Vortragenden und der Entschlossenheit einiger zu präziser Kürze und trotz der wiederholten Hinweise Dominiques auf die Redezeit scheint die ziemlich erschöpfende, lange Vorstellung der beinahe vierzig Stücke kein Ende zu finden. Auch wegen der erdrückenden Hitze und der Verdauungsmüdigkeit zieht sich das hin. Und dennoch steht Hakan diesen Übersetzungsmarathon durch. Aber wie geht es, genau genommen, dem Publikum? Das ist schwer herauszubekommen.
Vor der abgemachten Zeit für den Theaterbesuch vertreten sich Wolfgang, Amin und ich ein wenig die Beine auf dem Halaskargazi. Ohne festes Ziel, so wie man auch auf den Champs Elysées herumschlendern würde. Da klopft ein kleiner älterer Herr Amin freundschaftlich auf die Schulter und unterbricht seinen Redefluss. Amin dreht sich ein wenig überrascht um und erkennt einen seiner alten Nachbarn aus Damaskus, als er noch in Syrien lebte. Bewegt von diesem Wiedersehen fallen sich die beiden Männer in die Arme. Das ist ganz und gar unglaublich. Aber die augenblickliche Lage in Syrien macht ein solches Treffen erklärlicher und gleichzeitig noch emotionaler.
Im hinteren Teil der Einkaufspassage in einer gehobenen Wohnanlage zeigt ein in ein Theater umgewandeltes ehemaliges Kino im Rahmen des 20. Istanbul Tiyatro Festivali die Rebellion der Hunde von Oyun Salonu. Ein Mädchen mit blauen Haaren steht im Foyer hinter dem Tresen, und das mehrheitlich junge Publikum belegt laut plaudernd die aufgestellten Sessel. Lebhafte Konversation und Undergroundatmosphäre, seltsamerweise in verrauchter Luft, obwohl niemand raucht. Es ist der Vorprämierenabend und die meisten Zuschauer sind Freunde der Schauspieler. Auf der Treppe zum Theatersaal hinunter hakt ein junger Mann auf einer Liste die Angemeldeten ab. Wir als ausländische Gäste müssen uns dem nicht unterziehen und können direkt zu unseren Sitzplätzen gehen, die einzeln durch Namensschilder auf der Rückenlehne reserviert sind.
Im Stück kommt ein bourgeoises Ehepaar in Konflikt mit seinen Angestellten, natürlich auf Türkisch mit englischen Obertiteln. Der Textfluss ist schnell und die Übersetzungen sausen nur so über die Projektionsfläche, sodass man den Blick kaum abwenden kann und sich leicht den Hals verrenkt. Obwohl man manches nicht versteht und einige Fragen offen bleiben, kann man die Handlung einigermaßen fassen. Die vier Schauspieler geben mit großem Engagement alles für das Stück, und das auf offener Bühne ausgetragene Ballett der Holzrahmen in L-Form verändert das Bühnenbild und schafft recht faszinierend viele Handlungsräume. Mäßig gewagte Entkleidungsszenen und die im Titel und den Dialogen dargebotene Wut der Revolte beanspruchen Modernität und werden vom Publikum mit nachhaltigem Applaus honoriert.
Zurück im Hotel nach der Aufführung erleben wir ein weiteres Schauspiel: Der Vollmond flirtet am Himmel, den der stille Flug der Möwen mit einer Choreografie weißer Silhouetten überzieht, mit der Spitze eines Istanbuler Wolkenkratzers.
Samstagmorgen. Der Tagungsraum „Infrarot“ des Marmara Hotels ist bis auf den letzten Platz besetzt und wir stellen Stühle dazu. Endlich treffen sich Eurodram und Fence für eine gemeinsame Sitzung zum Istanbuler Theaterfestival und zum zeitgenössischen türkischen Theater. Wir können mit der Festivaldirektorin und einigen türkischen Autoren, Dramaturgen und Regisseuren sprechen. Der Gedankenaustausch beginnt mit einer umfassenden Vorstellungsrunde, die eine gewisse Zeit in Anspruch nimmt. Immerhin kommen die Teilnehmer aus sehr verschiedenen Ecken der Welt von Schottland bis Tschechien, von den baltischen Staaten über die Vereinigten Staaten bis nach Palästina. Vielen Gesichtern sind wir schon begegnet, aber es ist schön, einigen anonym gebliebenen nun einen Namen zuordnen zu können. Obwohl es sich ja um einen ziemlich formellen und nüchternen Vorgang handelt, geht es dabei insgesamt schön locker und entspannt zu. Am Ende des Treffens wissen wir viel über die neueste Geschichte des modernen türkischen Theaters, über die wesentliche Rolle der Sponsoren bei der Finanzierung des Festivals (sogar ein Gasunternehmen hat die Geldbörse gezückt), über das von der Regierung gehätschelte neue Bild des islamischen Helden in Opposition zu den Heldenfiguren der türkischen Republik…
Während der Sitzung ergreifen vier türkische Autoren das Wort. Tüncer Cucenoglu mit gesetzter Stimme und der Autorität seiner weißen Haare. Mirza Metin, kurdischer Autor mit schwarzem, zerzausten Bart. Hasan Erkek, der perfekt französischsprachige, elegante, gebildete Hochschullehrer. Und natürlich unser Freund Hakan, der wieder die Rolle des Übersetzers innehat.
Nach dem Mittagessen in denselben Restaurants wie am Vortag stellt Clara ein europäisches Förderungsmodell und die Bedingungen dafür vor. Voller Energie setzt sie sich für das Projekt ein, geht auf die Details der Vorteile ein (kulturelle Vielfalt, Mischung von öffentlichen Institutionen und privaten Strukturen…) und verweist auf die derzeitigen Lücken bei Eurodram. So muss das Netzwerk noch für eine bessere Präsenz in den sozialen Netzwerken sorgen um den Kreis derer, die uns wahrnehmen, zu vergrößern, sich mit Partnern zusammentun und die Vorhaben für jedes Komitee festlegen.
Der Abend ist ziemlich frisch geworden und der Himmel grau. Erste vereinzelte Tropfen klatschen auf den Anlegeponton. Wir warten an der Landungsbrücke von Kabalash auf die Fähre über den Bosporus, denn wir wollen im Kulturzentrum von Caddebostan ein Stück sehen. Die Stadt hat sich auf beiden Seiten des Bosporus mit derselben Vitalität ausgebreitet. Über den Hügeln in der Ferne erheben sich die hohen Funkmasten wie elektrische Minarette. Trotz der Breite der Meerenge befinden wir uns hier im Stadtzentrum, aber man spürt die grau-grüne Nähe des Meeres, und furchtlose Kormorane stürzen sich zwischen den Schiffen ins Wasser. Ein Fence-Mitglied berichtet, dass er, als er am Vorabend zu einer Aufführung fuhr, spielende Delfine um die Fähre herum gesehen hat. Ich weiß nicht warum, aber man denkt an die Argonauten, die auf der Suche nach dem goldenen Vlies den Meeresarm zum Schwarzen Meer hochfahren.
Das Theater liegt im vierten Stockwerk eines beeindruckenden gläsernen Gebäudekomplexes, in dem sich auch Mehrzweck- und Ausstellungsräume und eine Kinoetage mit mehreren Sälen und Popcorntresen befinden. Ein Theater mit tausend Plätzen in der vierten Etage! Und es ist nicht das einzige. Im Gegensatz zum Stück am Abend zuvor hat diese Generalprobe zur Aufführung der Drei Schwestern nicht den gesamten Freundeskreis ins Theater gelockt und im Parkett sitzen etwa dreißig Gäste. In der Adaption gibt es nur noch die Hauptrollen Olga, Maša und Irina, die in eine Art Quarantäneaquarium eingesperrt sind, aus dem sie sich befreien wollen. Die sehr modernistische Inszenierung des Mazedoniers Aleksandar Popovski steht nicht im Dienst des Textes von Tschechow, auch wenn uns all seine Worte über die Lektüre der englischen Übertitel in ihrem melancholischen Klang erreichen. Trotz der ordentlichen Energie der Schauspielerinnen kommt man nicht umhin einzugestehen, dass man sich ein wenig langweilt.
Der Rückweg zum Hotel geht über eine andere Fähre. Es ist die letzte der Nacht und wir erreichen sie nur noch mit einem kleinen Sprint. Die Fahrroute Richtung Eminönü führt an der Küste mit ihren angestrahlten Sehenswürdigkeiten entlang. Ein magischer, unersetzlicher Anblick, den keine Fotografie je in seiner ganzen Pracht wird erfassen können. Ein leichter Regen fällt auf die Landungsbrücke von Galata. Dort ist das lebhafte Treiben auf den Terrassen trotz der aufgekommenen Frische noch lange nicht vorbei. Der nächtliche Spaziergang, eine Art touristische Flucht in Postkartenbilder, ist es ganz und gar wert, diese drei Schwestern und ihre düsteren Gemütszustände ertragen zu haben.
Sonntagmorgen. Ein letztes mehr oder weniger informelles Treffen zum Auf-Wiedersehen-Sagen und für eine Bilanz dieser drei dichten Tage beschäftigt uns für einen Teil unseres Vormittags.
Für mich auch die Gelegenheit, mit Jeton einen Kaffee zu trinken und mit Andréas und einer englischen Autorin zu frühstücken, die mir gesteht, dass sie ihr Französisch noch weniger beherrscht als ich mein Englisch. Das beruhigt mich ein bisschen, aber so recht stolz macht es mich nicht.
Den freien Sonntagnachmittag nutzen Clara, Dominique und ich zur Besichtigung der unumgänglichen Touristenattraktionen, Hassan Erkek führt uns. An erster Stelle die Hagia Sophia. Es erwartet uns eine positive Überraschung: Wir können hinein ohne anzustehen, vorhersehbare Folge der Attentate der letzten Monate und des Niedergangs der Touristenzahlen. In der blauen Moschee ist an diesem Sonntagnachmittag sehr viel mehr los. Die Frauen werden aufgefordert, Kopftücher zu tragen und unförmige lange Röcke, die am Eingang ausgegeben werden. Die Yerebatan-Zisterne, diese riesige unterirdische Baslika, in der eine eindrucksvolle Stille herrscht. Die Karpfen gleiten still im Dunkeln zwischen den Säulenreihen und die Medusen aus Stein schweigen und bewachen bis in alle Ewigkeit die alten Wasserreserven des antiken Konstantinopel. Und dann der große Basar um ein bisschen einzukaufen und aus Freude am Flanieren.
Letztes Abendessen im Restaurant Mangiamo, der heimlich-offiziellen Abendkantine dieses Eurodram-Fence-Treffens. Im Fernsehen spielt die türkische Nationalmannschaft gegen England. Einige Engländer um Jonathan und natürlich mehrere Türken schauen zu. Die Türkei verliert gerade, und obwohl Hakan betont, dass es ein wichtiges Spiel ist, macht sich keiner so richtig Sorgen. Es geht um etwas anderes. Um das, was sich hier von Treffen zu Treffen herausbildet: dieses Netzwerk Eurodram, das immer größer wird und dessen dritte Hauptversammlung an den Toren Europas und des Orients eine sehr symbolische Bedeutung hat.
Letzter Vormittag, letzter kleiner Spaziergang, dann gebe ich meinen Schlüssel ab. Auf dem berühmten Taksim-Platz sieht man keine Menschenseele. Aber sehr viele Polizisten und zahlreiche große Limousinen mit abgedunkelten Scheiben. Wegen eines weltweiten Gipfeltreffens ist der Platz hermetisch abgeriegelt. Ohne die offizielle Ansteckplakette kommt man nicht hin. Sie haftet am Oberkörper einiger gut frisierter Herren und junger Damen im Kostüm, die stolz auf ihr Aussehen sind. Auf den Bürgersteigen aber wachen Zivilpolizisten, sie sehen Chefchauffeuren zum Verwechseln ähnlich.
Nun sitze ich wieder auf der Terrasse des Cafés gegenüber der Moschee von Sisli und bringe die letzten Notizen dieser Chronik zu Papier, während sich die Sonne wieder zeigt und mein Tee kalt wird.
Gilles Boulan, Mai 2016
Übersetzung ©W. Barth Mai 2016